Zwei Ausstellungen: Ruth und Manfred Wagner

Christoph Schölzel über die Zeichnungen von Ruth und Manfred Wagner

Die Reisezeichnung eines ganz Großen steht ziemlich zu Beginn einer langen Tradition: Auf seiner Reise in die Niederlanden 1520-21 hat der fünfzigjährige Albrecht Dürer die Feder zur Hand genommen und die Situation des Hafens und der Stadtbefestigung von Antwerpen mit klaren Strichen aufs Papier gebannt. Die Linien umreißen die Gegenstände – Schiffe am Kai, im Hintergrund Segler auf der Schelde, Häuser, Mauern und Türme und nur einige wenige Personen, die an einem Schiff im Mittelgrund beschäftigt sind. Der Zeichner verwendet in seiner Arbeit die Linien zweckbezogen und sparsam. Es kommen kaum Doppelungen und Wiederholungen vor, Schraffuren zur Bezeichnung von Licht und Schatten fehlen fast gänzlich und wenn sie erscheinen, dann folgen sie den Formen und bezeichnen zugleich die Strukturen des Mauerwerks oder die Reihen der Dachziegel. Mit großer Geduld entflicht Dürer das Gewirr von Masten und Segeltauen in den perspektivisch hintereinander aufgereihten Schiffen. Zugleich benutzt er die Mastbäume als kompositorische Linien seiner sich von links unten nach rechts oben erstreckenden Zeichnung. Der Verdichtung in den Schiffen und Architekturen setzt er eine große Freifläche entgegen, indem er auf die Schilderung der direkt vor ihm liegenden Gegenstände im Vordergrund rechts verzichtet.

Manfred Wagner, „Kutna Hora (Kuttenberg), Gotischer Brunnen / Joh. Kirche 1734–50 · FM Kaňka.“ 1977

Manfred Wagner,
„Kutna Hora (Kuttenberg), Gotischer Brunnen / Joh. Kirche 1734–50 · FM Kaňka.“
1977

Ein halbes Jahrtausend spannt sich von Dürers Antwerpenansicht, die sich heute in der Wiener Albertina befindet, zu den Reiseskizzen des Architektenehepaares Ruth und Manfred Wagner, die bis Ende Oktober in der Evangelischen Mägdleinschule in Pirna (Kirchplatz 10) und im Haus der Architekten in Dresden (Goetheallee 37) und in zwei Ausstellungen zu sehen (sind) waren. Und doch verbindet sowohl in der Auffassung im Allgemeinen als auch im Einsatz der grafischen Mittel im Speziellen die Zeichnungen der beiden Dresdner viel mit dem Blatt des großen Nürnbergers, das von Erwin Panowsky als „Gipfelpunkt“ von Dürers Schaffen als Landschaftszeichner gewürdigt wurde. Ihre Formate – konsequent quer gestellt – gleichen fast bis auf den Zentimeter Dürers Antwerpenzeichnung (die 21.3 x 28,3 Zentimeter misst). Anstelle der Feder bei Dürer ist bei den beiden seit den 1960er Jahren das Architektenzeichengerät, Rapidograph getreten – ein Tuschfüller, der gleiche Linienbreiten gewährleistet und, weil in den modernen Architekturbüros vom Computer abgelöst, nicht mehr hergestellt wird. Auch Wagners Zeichnungen sind ausschließlich der Linie verpflichtet. Manfred fügt selten und sparsam Schraffuren ein, während Ruth fast gänzlich ohne sie auskommt. Die Verteilung von stark zeichnerisch verdichteten Bereichen und Leerflächen benutzen Wagners, wie schon Dürer, zur Erzeugung kompositorischer Spannungen und auch das gestalterisch gut platzierte Monogramm mit der Jahreszahl erinnert an Dürers Bezeichnungen seiner Blätter.

Der beim gemeinsamen Freihandzeichenlehrer Heinz Röcke während ihres Architekturstudiums an der Technischen Universität Dresden erworbenen Zeichentechnik bleiben Wagners seit Jahrzehnten treu. Sie variierten nur gelegentlich die Formate – vor etlichen Jahren beeindruckten sie mit faszinierenden Panoramazeichnungen auf quer geteilte A3- Zeichenblöcke und Manfred wählte für seine Zeichnungen das harte Aquarellpapier aus Weißenborn im B4- Format, das automatisch seinen Strich versprödete und zu besonderen strukturellen Reizen führte.

Bei den in Pirna und in Dresden zu sehenden Zeichnungen sind die Wagners zum A4-Format zurückgekehrt und können bei den gleichen Größen die Zeichnungen leicht zu thematisch klar gegliederten Bilderbögen arrangieren.

Ruth Wagner, „Potsdam, Dampfmaschinenhaus · Moschee“ 13. August 2000

Ruth Wagner,
„Potsdam, Dampfmaschinenhaus · Moschee“
13. August 2000

Manfreds Ausstellung präsentiert Zeichnungen, die auf zahlreichen Böhmen-Fahrten zwischen 1963 und 1992 entstanden sind. Die thematische Auswahl bei Ruths Schau ist auf Orte in den neuen Bundesländern beschränkt, die das Ehepaar in den letzten Jahren systematisch bereist hat und dabei das Beständige wie auch die vielfältigen Veränderungen quasi überprüften (denn diese Orte sind ihnen natürlich von früheren Exkursionen alle vertraut gewesen).

Den Zeichnungsfolgen der beiden liegt ein vielschichtiges Konzept zugrunde: Es beginnt mit der präzisen theoretischen Vorbereitung der Fahrten – Organisation der Reiserouten mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Wagners sind ohne Auto mobiler als die meisten Automobilisten!) und der Hotelstützpunkte, die im Zentrum des zu erkundenden Zirkels liegen müssen, bis zu baugeschichtlichen Themenstellungen. Neben dem Zeichnen vor Ort weiten sie sich zu detaillierter Befragung der mitgeführten Kopien aus den Dehio-Handbüchern bzw. aus Reclams Kunstführern aus. Das Wissen der Architekten, das sie beruflich jahrzehntelang an der Technischen Universität Dresden Studenten vermittelten, fließt stets mit in die Blätter ein – sie vermögen schnell Unstimmigkeiten und Veränderungen an den „reinen“ Architekturformen zu erkennen. Selten – wenn es sein muss – wird hier mit dem Zeichenstift auch etwas korrigiert und eine, in moderner Wärmedämmung versunkene Fassade erhält wieder ihre ursprüngliche Fachwerkgliederung zurück.

Das Konzept der Wagners zielt auf die Breite: Sie wollen in ihren Zeichnungen die Vielfältigkeit der Baukultur einer Region dokumentieren, was einem spätestens seit dem 19. Jahrhundert formulierten denkmalpflegerischen Anliegen entspricht. Sie ergründen dazu das Eingebundensein der Bauwerke in den Landschaften, sie zeigen die in Jahrhunderten gewachsenen städtebaulichen Räume und sie veranschaulichen immer wieder die herausragenden baukünstlerischen Leistungen einzelner Gebäude: Kirchen, Schlösser, Burgen, Bürger- und Rathäuser, Türme, historische Industriebauten und Architekturen der klassischen Moderne. Dieses umfassende Konzept, das mit den Möglichkeiten des Zeichners Klärungen und Konzentrationen zu erzielen vermag, die dem Fotografen so nicht möglich sind, erinnert an die zu Lebzeiten, zwischen 1642 und 1656, auf 16 Bände angewachsene „Topographie Germaniae“ des Schweizer Kupferstechers und Verlegers Matthäus Merian. Auch Wagners könnten zahlreiche Bände mit ihren Reisezeichnungen herausgeben. Das würde es uns, außer den sehr empfehlenswerten Besuchen der beiden Sonderausstellungen, noch besser möglich machen, an ihrer großartigen „Kultur des Sehens“ teilzuhaben.

Christoph Schölzel

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